„Ben, du bist ein Arschloch.“ Da standen sie, diese Worte, und trafen mich sehr. Weil ich sie mir selbst geschrieben hatte.


Seit dem 8.8.2012 schreibe ich wieder regelmäßig Tagebuch. Inzwischen sind es 3616 Einträge. Manchmal sind es mehrere am Tag, manchmal tagelang gar keine. Ich habe 771 Fotos hinzugefügt und dafür oft den Text weggelassen; ich bin dabei an wenigstens 207 Orten gewesen, erstaunlich viele davon auf der anderen Seite einer Toilettentür in einer fremden Stadt.

Mein Tagebuch erlaubt es mir, zu lesen, zu sehen und zu hören, was ich mir „heute vor X Jahren“ selbst hinterlassen habe. Ich bin immer wieder überrascht, wie viel sich nicht geändert hat, was alles immer wieder Thema war und noch immer ist. Welche Gewohnheiten ich verstärkt habe, und welche mir abhandengekommen sind oder ich abgelegt habe.

Was ich inzwischen vergessen habe, was ich alles machen wollte. Und wie ich vergessen habe, was ich bereits alles gemacht hatte. Und wie wichtig mir beides doch eigentlich war.

Ich weiß nicht, ob es viele Dinge und Sachen sind, die ich tatsächlich umgesetzt habe. Oder ich sie für Ideen aus dem Jetzt gehalten habe, während die Ideen dafür bereits in Einträgen vor fast einem Jahrzehnt zu finden sind. Wie ich viele Dinge und Sachen jahrelang bewusst mit mir herumgetragen und irgendwann endlich begraben habe. Mit großem Glück habe ich mich selbst begleitet, um die ersten Ideen zwischen den Ohren nun fest zwischen meinen Händen halten zu können. Mit viel Pech beobachte ich mich in schmerzhaften Prozessen des Loslassens.

Fotos, von denen ich dachte, dass sie im Laufe der Zeit verloren gegangen seien, tauchen vereinzelt und dafür erstaunlich oft auf. Mit einem vermissenden Lächeln oder mit einem gefühlsseligen Lachen werden die Erinnerungen daran jedes Jahr weniger intensiv, und wie ich ein Foto sehe, weicht dem, was ich auf dem Foto sehe.

Ich finde Bauchgefühle über andere Menschen, die sich im Nachhinein fast immer bestätigt haben, im Guten wie im Schlechten, und habe dafür selten darauf im Vorfeld geachtet, im Guten wie im Schlechten. Spitze Analysen von mir selbst treffen mich wie ein Pfeil in der Nacht, wenn ich für mich merke, dass ich vielleicht doch nicht viel anders geworden bin. Manchmal bin ich der Schütze selbst, wenn ich dabei den Kopf schüttle und mich frage, wie ich so sein konnte.

Es berührt mich sehr, wenn ich lese, wofür mir Menschen gedankt haben, und es ist gut für mich zu wissen, dass ich es Menschen gesagt habe, wofür ich ihnen dankbar bin.

Ein Protokoll war mein Tagebuch dabei noch nie. Ich habe zuerst versucht, mir Fragen zu stellen, nur war es dabei schwer, zwischen dem zu unterscheiden, wie ich gewesen bin, und dem, was ich hatte. Und wenn ich dann „hatte“, war es beim Schreiben keine große Sache mehr.

Stattdessen versuche ich nun, mich selbst zu beobachten und mir zu erzählen, warum es mir in diesem Augenblick wichtig ist, ohne darauf zu achten, ob es meine Beobachtung der Sache selbst oder nur meine Reaktion darauf ist. Und die längste und erste Zeit war ich zu beschäftigt damit, mich zu fragen, was ich wohl damit gemeint habe.

Mein Tagebuch schlage ich nie auf, um bewusst etwas zu lesen oder zu finden. Es ist kein erweitertes oder ausgelagertes Gedächtnis. Es sind ein paar kurze Momente im Fluss meines Bewusstseins, der Strom meiner Identität. Ich weiß daher nicht, ob ich das bin, was ich da lese, oder gerne wäre, oder gerne gewesen wäre.

Ein wesentlicher Teil von mir ist es allerdings, und eines der ganz wenigen Dinge, die ich bereue, ist, nicht schon viel früher mit dem Schreiben angefangen zu haben.